Avalon. Ein wundervoller Ort. Voller Licht und Leben. Zumindest damals. Ich sehe immer noch die Reihen von Kriegern, die in ihren strahlend weißen und goldenen Rüstungen gegen die Schwarzelben kämpften, deren schwarze Rüstungen das ganze Licht Avalons einzusaugen schienen. Über allem schwebte ein schwerer Geruch nach Blut und Verderben. Die Kämpfe hörten nicht auf, bis der letzte Mann tot war. Angst und Schrecken kamen über Avalon, als der dunkle König Célean an den Hof der Königsfamilie kam; den Kopf Oberons als Trophäe auf seinen Speer gespießt. Seit diesem Tag hatte es keine Sekunde in Avalon gegeben, die man lachte, die man fröhlich verbrachte. Avalon war kalt und grau geworden. Eines Tages jedoch, als die Glocke im hohen Turm Alarm schlug, wandte sich einiges wieder um. Titania, die seit dem Tod ihres Geliebten keinen Fuß mehr aus dem Palast gesetzt hatte, stand in ihrem Zimmer am Fenster und schaute in den Hof. Eine düstere Gestalt tauchte auf. Schwarze Plattenrüstung, schwarzer, wehender Seidenumhang und bis an die Zähne bewaffnet schritt die Kronprinzessin der Schwarzelben über die ergrauten Steine des Hofes. Ihre Schritte waren langsam und bedacht, ihr Blick auf die Reihen von Feenwesen gerichtet, die sie umringten. Ihr pechschwarzes Haar floss ihr über den Rücken wie pure Dunkelheit und ihre stechenden, schwarzen Augen musterten alles und jeden in ihrem Blickfeld. Als sie die klare, schneidende Stimme erhob, kehrte Totenstille ein.

„Ich wünsche, Titania zu sprechen!“, rief sie und die Eiseskälte, die von ihr ausging, ließ die umstehenden frösteln. Titania, die immer noch an ihrem Fenster stand, zog sich zurück. Das letzte, was sie tun wollte, war mit einer zu sprechen, die aus dem Volke stammte, das ihren Liebsten ermordet hatte. Schon glaubten alle, keine Antwort zu bekommen, als ein Mädchen aus dem Palast trat. Sie war das komplette Gegenteil der schwarzen Prinzessin. Ihr Haar leuchtete silbern und ihre eisblauen Augen waren so hell, dass sie beinahe weiß schienen. Sie trug ein schneeweißes Kleid, mit Perlen verziert und auf ihrem Rücken hing ein Schwert. Jeder, selbst die Frauen trugen seit Oberons Tod eine Waffe bei sich.

„Meine Mutter ist nicht in Stimmung, mit Euch zu sprechen, Cassandra. Deshalb werde ich es tun.“ Sie deutete einen Knicks an. Die schwarze Prinzessin kümmerte sich nicht einmal darum, Respekt zu zeigen.
„Ich kam her, um Euch zu warnen. Mein Vater plant einen weiteren Angriff.“ Titanias Tochter hob eine geschwungene, dunkle Braue.

„Um uns zu warnen? Vor Eurem Vater? Warum solltet Ihr?“ Cassandra verengte die Augen.

„Krieg ist keine Lösung. Aber genau das denkt mein Vater. Viána, er greift morgen früh bei Sonnenaufgang an. Bis dahin solltet Ihr Euch bewaffnet und vorbereitet haben!“ Viána schnaubte.

„Woher weiß ich, dass das keine Falle ist? Woher weiß ich, dass Ihr nicht versucht, uns Angst einzujagen, um uns zu schwächen?“ Cassandras Blick verdüsterte sich. Sie ging schnellen Schrittes auf ihre Gegenüber zu und blieb direkt vor ihr stehen.

„Mein Vater hat Dinge getan, die Ihr Euch nicht vorstellen könnt, Prinzesschen! Es geht mir nicht um diesen Hof, es geht mir darum, dass mein Vater nicht noch mehr Zerstörung anrichtet!“ Viána verzog das Gesicht zu einer skeptischen, verachtenden Grimasse und erwiderte frostig:

„Ihr seid der Ursprung aller Zerstörung hier!“, zischte sie und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, um zumindest etwas Stärke und Widerstand gegenüber der einen Kopf größeren, schwarzen Prinzessin zu zeigen. Cassandra ließ sich nicht beeindrucken. Sie fixierte Viánas blauen Blick mit ihrem schwarzen und knurrte düster:

„Euer Vater hat meine Mutter getötet. Deshalb wollte mein Vater Rache üben, deshalb hat er ihn getötet! Meine Mutter hat unser Reich zusammengehalten, und Oberon hat sie getötet, während sie auf Jagd war! Sie hatte nicht einmal etwas getan!“ Die weißblauen Augen der Prinzessin des Lichten Hofes, wie man Titanias Hof auch nannte, verengten sich prüfend.

„Das wisst Ihr doch gar nicht.“, erwiderte sie. Cassandra spannte die Kiefermuskeln an und ballte die Hände zu Fäusten.

„Ich war da! Ich war dabei! Ich habe noch versucht, sie zu schützen, aber sein Pfeil hat sie direkt ins Herz getroffen, ehe ich etwas tun konnte!“ Viána blinzelte.

„Und dennoch versucht Ihr, uns zu schützen.“ Die schwarze Prinzessin schluckte.

„Weil Ihr nichts getan habt. Mein Vater hatte seine Rache, er hat Oberon getötet. Es müssen nicht noch mehr sterben.“ Endlich schien sie Viána überzeugt zu haben, denn diese nickte zaghaft.

„Und was schlagt Ihr vor?“, fragte sie dann. Cassandra schüttelte langsam den Kopf.

„Verlasst den Hof. Mein Vater wird alles einsetzen. Auch mich.“ Etwas in Cassandras Stimme ließ Viána hellhörig werden.

„Euch?“, fragte sie skeptisch. Die Antwort der schwarzen Prinzessin war leise und kaum zu hören.

„Er weiß, wie er mich kontrollieren kann.“ Damit wirbelte sie herum und verließ den lichten Hof so schnell sie konnte. Viána blieb zurück und schaute der schwarzen Prinzessin nachdenklich hinterher.

„Hoheit, was sollen wir jetzt tun...?“, fragte einer der Wachmänner. Titanias Tochter reckte das Kinn und sagte entschlossen:

„Wir kämpfen. Bereite deine Männer vor. Sucht alle zusammen, die kämpfen können. Wir haben eine Schlacht zu gewinnen.“ Ehe jemand etwas sagen konnte, zumal sich das auch niemand je getraut hätte, war sie wieder im Palast verschwunden.

 

Bei Morgengrauen des nächsten Tages standen hunderttausend Krieger kampfbereit vor den Toren. Es waren die weißen und goldenen Rüstungen, die die Krieger der Schwarzelben warnten. Célean schaute zu seiner Tochter. Ihre schwarzen Augen waren trüb und sie folgte jedem seiner Gedanken. Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

„Sag mir, Cassandra, hast du unseren Feind gewarnt?“ Die schwarze Prinzessin nickte. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren Körper, folgte willenlos den Befehlen ihres Vaters. Nur noch einhundert Fuß von den feindlichen Reihen entfernt begannen sie, zu laufen. Die Krieger beider Seiten zogen ihre Waffen und begannen eine blutige Schlacht. Cassandra stürmte auf Viána zu. Als die Prinzessin des Lichten Hofes erkannte, dass Cassandra keine Kontrolle über sich selbst hatte, versuchte sie, auszuweichen. Kaum traf die schwarze Klinge der Schwarzelbin auf die weiße der Prinzessin des Lichten Hofes, schien sie innezuhalten. Die Trübheit verschwand aus ihren Augen und sie blinzelte verwirrt. Dann bemerkte sie das Geschehen um sich herum.
„Ich habe Euch doch gesagt, Ihr sollt den Hof verlassen!“, fuhr sie Viána an. Diese hingegen reagierte kaum. Sie starrte auf einen Punkt hinter Cassandra, die sich umdrehte und ein beachtliches Schauspiel zu Gesicht bekam. Titania, die seit Jahren keinen Fuß mehr aus dem Palast gesetzt hatte, trat in voller Rüstung auf das Schlachtfeld. Einen Moment hielten die Kämpfenden inne, starrten die Königin an und wussten nicht recht, wie sie handeln sollten, dann begannen sie wieder, zu kämpfen. Es fielen mehr lichte Krieger als schwarze. Viána und Cassandra beobachteten das Geschehen entsetzt. Keine von beiden hatte eine Schlacht gewollt. Cassandra schluckte schwer, dann fasste sie einen Entschluss.

„Viána.“ Die Prinzessin sah sie an. „Ich kämpfe gegen meinen Vater.“ Die blauen Augen der Prinzessin weiteten sich. „Sagt nichts. Ich weiß, dass ich dabei sterben könnte, sogar ziemlich wahrscheinlich werde. Aber vielleicht... vielleicht sieht er dann, was er angerichtet hat. Außerdem, wenn ich gegen ihn gewinne... dann übernehme ich den Thron... und dann wird es keinen Krieg mehr geben...“ Viána starrte die schwarze Prinzessin für einen Moment an, dann verneigte sie sich.

„Ihr habt mehr Ehre als Euer Vater jemals haben könnte.“, sagte sie. „Ich wünsche Euch alles Glück, das Ihr braucht.“ Cassandra nickte, dann wandte sie sich um.

„Vater!“, rief sie. Célean sah sich suchend um und entdeckte seine Tochter, die jetzt erhobenen Hauptes auf ihn zukam. Verwirrung machte sich in ihm breit. Noch vor wenigen Minuten hatte sie völlig seinen Befehlen gehorcht, jetzt hingegen war sie wieder Herr über sich selbst. Er verengte die Augen, dann, plötzlich und ohne jede Vorwarnung, ging Cassandra auf ihn los. Er parierte ihren Schlag nur mit Mühe. Seine schwarzen Augen weiteten sich, während Cassandra ihre Augen angestrengt verengte. Die nächsten Schläge parierte er sicherer. Er duckte sich weg, drehte sich von einer Stichattacke weg und wirbelte herum, als sie plötzlich hinter ihm war und ihn von dort angriff. Ihre Schläge wurden immer schneller und ihre Brauen waren konzentriert zusammengezogen. Hätte er sie nicht selbst ausgebildet, hätte er geglaubt, sie könnte ihn besiegen. In Gedanken murmelte Cassandra Gebete, dass sie stark genug war. Sie ließ keine Ablenkung zu, täuschte Schläge an und landete einen Treffer an seiner Schulter, aber die Rüstung schützte ihn überwiegend. Verzweifelt suchte sie nach angreifbaren Stellen und stellte fest, dass er seine Handschuhe nicht trug. Also zielte sie auf seine linke Hand, mit der er das Schwert hielt. Célean aber sah, was seine Tochter vor hatte und zog die Hand weg, bevor sie schlug. Cassandra aber konnte den Schlag nicht rechtzeitig stoppen, weshalb sie nach vorne stolperte. Diese Gelegenheit nutzte Célean und rammte seiner Tochter den Schwertgriff in den Rücken. Sie keuchte auf und wirbelte herum, erhielt aber einen Schlag gegen die Schläfe. Taumelnd blieb sie stehen und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, aber Célean hatte seine Chance entdeckt. Aus dem Augenwinkel sah sie die Klinge, dann spürte sie den Schmerz in ihrer Seite. Angestrengt keuchte sie auf und sah ihren Vater an. Mit letzter Kraft stieß sie ihm ihr eigenes Schwert in die Brust. Er erstarrte, riss die Augen auf und sank langsam auf die Knie, wobei sein Schwert sich aus Cassandras Seite löste und mit ihm zu Boden fiel. Schwer atmend hielt sie sich die Seite. Blut quoll aus der Wunde hervor, aber das interessierte sie kaum. Ihr Vater kniete vor ihr.

„Was hast du... getan...?“, krächzte er, dann kippte er langsam nach vorne und schlug auf dem Boden auf. Plötzlich war es totenstill. Die schwarze Prinzessin schaffte es noch, sich umzusehen, bevor sie ebenfalls auf die Knie sank. Ein Stöhnen entwich ihr. Um sie herum standen die Krieger und Kriegerinnen und beobachteten das Geschehen mit offenen Mündern und aufgerissenen Augen. Hastige Schritte ertönten und Viána bahnte sich einen Weg durch die Menge. Vor Cassandra kam sie zum Stehen. Die schwarze Prinzessin sah zu ihr auf.

„Ich... habe es geschafft...“, keuchte sie angestrengt. Viána nickte und kniete sich vor sie. Nach allem, was sie getan hatte, blieb nur noch ein Gedanke im Kopf der Prinzessin des Lichten Hofes.

„Mutter!“, rief sie. „Du musst sie heilen!“ Titania hob den Kopf und schritt langsam auf die beiden jungen Frauen zu. Die Krieger, sowohl lichte als auch schwarze, machten ihr Platz. „Mutter, bitte...“, flehte Viána. Einen Moment rang Titania mit sich, dann aber rief sie sich ins Gedächtnis, was Cassandra gerade getan hatte. Schweigend kniete auch sie sich neben die schwarze Prinzessin, legte ihre Hände auf die blutende Wunde und begann, zu murmeln. Ein helles Licht drang aus ihren Handflächen hervor, heller, als alles, was man je gesehen hatte. Wie Wasser floss das Licht um Cassandra herum, heilte ihre Wunde und gab ihr ihre Kraft zurück. Als Titania Cassandra geheilt hatte, richteten die drei Frauen sich gemeinsam auf und verkündeten:

„Von diesem Tage an soll es keinen Krieg mehr zwischen Schwarzelben und Feenwesen geben! Lasst uns nun den Frieden feiern und die grausamen Taten der Vergangenheit vergessen!“ Und gemeinsam zogen sie, die Krieger des lichten und des schwarzen Hofes, in den Palast ein um ihren Frieden zu besiegeln.

Ich erinnere mich an diesen Tag, als sei es gestern gewesen. Das Fest ging bis in die Nacht hinein und es wurde getanzt, gelacht und endlich war besiegelt, dass es keinen Krieg mehr geben würde.

 

Ende